Mittwoch, 24. August 2022

Der Häuptling der Apatschen

Mittlerweile weiß es jeder – Ravensburger hat ein Winnetou-Buch aus dem Programm genommen. Seinen Akt der Selbstzensur begründet das Unternehmen so: das Werk zeichne ein klischeehaftes und vereinfachendes Bild der Ureinwohner Nordamerikas und blende das Leid der Opfer des Kolonialismus aus.
 
Diese Argumentation ist absurd, und zwar aus drei Gründen:
 
[1] Kinderbücher müssen immer „klischeehaft“ und „vereinfachend“ sein. Wer etwas Anderes behauptet, beweist damit, dass er über keinerlei Einfühlungsvermögen in das kindliche Denken verfügt. „Benjamin Blümchen“ kann keine Doktorarbeit über Elefanten sein, ein Was-ist-Was-Buch über Ritterburgen muss nicht die inhaltlichen Erwartungen eines Mediävisten erfüllen und das „Dschungelbuch“ stellt weder die Flora noch die Fauna des Urwalds korrekt dar.

[2] Gerade die Winnetou-Bücher sind ein Manifest der Offenheit gegenüber anderen Kulturen. Sie wecken das Interesse für die Lebensverhältnisse der Indianer und prangern deren Verdrängung durch „die Weißen“ an. Karl May stellt – in der Sprache und mit den Metaphern des späten 19. Jahrhunderts – klar, dass es Gut und Böse überall gibt, unabhängig von der Hauptfarbe, der Religion oder der sozialen Stellung.
 
[3] Jede (künstlerische) Betrachtung der Welt muss "klischeehaft" und "vereinfachend" sein, weil es unmöglich ist, die komplette Realität immer vollständig darzustellen. Kein Film, kein Roman, kein Bild kann auf alle Aspekte eines Sachverhaltes eingehen. Beethovens „Ode an die Freude“ ist eine Ode an die Freude – und damit klischeehaft und vereinfachend, denn sie blendet das Leid der Traurigen und Trauernden aus. „Bibi Blocksberg“ verschweigt die Hexenverbrennungen, eine Mafia-Komödie wie „Reine Nervensache“ geht nicht auf das Leid der Opfer des organisierten Verbrechens ein und jeder Pop-Song über die Liebe ist ein Schlag in das Gesicht derjenigen, die noch keinen Partner fürs Leben gefunden haben.
 
Wenn man die Ravensburger-„Argumente“ konsequent weiterdenkt, wird klar: ohne Klischees und Vereinfachungen ist keine Kunst und kein kreatives Denken mehr möglich. Vielleicht wollen die „woken“ Ideologen genau das erreichen.

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