Mittwoch, 17. Juli 2019

Les Misérables: Ein Wechselbad der Gefühle in Elz

Von Volker Höhler

Nur alle drei Jahre findet das „theater am bach“ wirklich am Bach statt, im Hof der Neumühle der Familie Schäfer in Elz. Dabei handelt es sich um eine traumhafte Location, die ihren Reiz besonders an lauen Sommerabenden unter blauem Himmel entfaltet. Als der Rezensent am vergangenen Freitag die Vorstellung von „Les Miserables“ besuchte ... regnete es jedoch mehrfach und das nicht einmal wenig. Es hätte nicht besser passen können: Zu den Barrikaden in den Straßen von Paris zu Zeiten des Juniaufstands 1832 und der Trauer um die Toten kann man sich blauen Himmel und Abendsonnenschein nicht so recht vorstellen, dafür umso besser den weinenden Himmel, dessen Tränen sich auf dem Boden mit dem Blut der Gefallenen mischen. Doch der Reihe nach:

Martin Trabandt, dem die Rolle des Erzählers und Autors Victor Hugo – wie allen Schauspielerinnen und Schauspielern dort – wahrhaft auf den Leib geschneidert ist, führt an diesem Abend nach einer kurz vorbeihuschenden Gesangseinlage über die Freiheit der Gedanken fernab aller irdischen Zwänge, ein ins Geschehen im damaligen Frankreich: Der Streit darüber, ob der Bonapartismus die richtige Herrschaftsform ist oder nicht vielmehr das Ancien Régime mit den Bourbonen als Königen Frankreichs, entzweite schon Vater und Großvater (Stefan Rücker, ein wahrer Grandseigneur) des jungen Studenten Marius de Pontmercy (voller Leidenschaft: Levin C. von Clausbruch). Jean Valjean (verkörpert durch einen der Meisterschauspieler des Theaters am Bach, Thorben Horn) verbüßt eine jahrelange Haftstrafe dafür, dass er einst ein Brot stahl, um seine Schwester und deren Kind vor dem Hungertod zu retten. Sein Aufseher im Gefängnis ist Javert, ein absoluter Verfechter des positiven Rechts (dessen Begrenztheit er im Laufe des Stücks jedoch einsehen muss) und gespielt von Holger Hastrich, einem Schauspieler par excellence, der vollkommen in seinen Rollen aufgeht, was man nicht nur an seinem wunderbar charakteristischen Tonfall erkennt, sondern auch an seiner unvergleichlichen Mimik. Er entlässt Valjean auf Bewährung und dieser hat das große Glück auf Bischof Myriel zu treffen (dem Steffen Jainta (s)ein Antlitz voller Menschlichkeit und Güte schenkt), welcher ihn zum Abendessen einlädt. Valjean dankt es ihm schlecht, indem er das Letzte, was der Bischof noch nicht den Armen gab, das Silberbesteck seiner verstorbenen Eltern, nachts einsackt und abhaut, obwohl ihm die Schwester des Bischofs (Susanne Hastrich) nachdrücklich und resolut deutlich gemacht hat, um was es sich dabei handelt. Weit kommt er damit jedenfalls nicht: Er wird aufgegriffen und behauptet, der Bischof habe ihm das Silber geschenkt. Zum Bischof gebracht, bestätigt dieser nicht nur wahrheitswidrig die Schenkung gegenüber den treuen Wachen (Marvin Wacker und Jörg Neundter), sondern sagt dem „Freund“ auch noch, dass er das Wichtigste vergessen habe, mitzunehmen: den Kerzenleuchter. Den packt er ihm ein, allerdings nicht ohne ihm so eindrücklich, dass es die Zuschauer erschaudert und der Rezensent Gänsehaut bekommt, mitzuteilen, dass er die Seele Valjeans, die bis zu diesem Zeitpunkt hasserfüllt war, mit dem Silber dem Teufel persönlich abgekauft habe für Gott. Dermaßen beschämt und vom Guten berührt, wird Valjean ein liebender und tugendhafter Mensch. Unter dem neuen falschen Namen Monsieur „Madelaine“ gelingt es ihm, durch eine sinnreiche Erfindung eine Fabrik aufzubauen, in der u.a. die junge Fantine (unglaublich eindrucksvoll gespielt von Sarah Horn) arbeitet, gemeinsam mit ihren Kolleginnen (Susanne Hastrich und Lisa Zimmer), darunter eine wirklich fiese (Sarah Sander). Fantine lernten die Zuschauer bereits einige Szenen zuvor kennen, als sie Hals über Kopf verliebt ihrem Freund Tholomye ihr Vertrauen schenkte, welches dieser jedoch, das ließ die Miene des Bösewichts (beängstigend glaubwürdig verkörpert von Marco Krelowetz) bereits erkennen, im wahrsten Sinne des Wortes schamlos, missbrauchte: Nach einem für sie wunderschönen Sommer ließ er die schwanger gewordene Fantine sitzen. Da sie ihre kleine Tochter Cosette nicht versorgen konnte, gab sie sie in die Obhut des Ehepaars Thenardier (gespielt von dem nicht nur darin vollkommen harmonierenden und auch im richtigen Leben verheirateten Paar Heike und Lutz Lachnit), das in seiner Wirtschaft nicht nur die Gäste von hinten bis vorne beklaut, sondern auch die arme Cosette als Sklavin ausbeutet. In einer der eindrucksvollsten Szenen des Stücks berührt es die Zuschauer zutiefst, wenn Nele Hastrich als Cosette ihre Hände ausstreckt und die Augen schließt in der Erwartung, genauso wie eine der leiblichen Töchter der Thenardiers (Dilara Cayir und Julie Zimmer) eine Puppe geschenkt zu bekommen. Es versteht sich dann leider schon von selbst, dass ihr der fiese Thenardier keine Puppe gibt, sondern ein von ihm vorher noch theatralisch beschmutztes Geschirrtuch mit einem Knoten, das Cosette jedoch so liebevoll behandelt wie eine Puppe als einzige Freundin.


Foto: Petra Kiesewetter

Ihrer Mutter Fantine ergeht es derweil noch schlimmer: Sie wird in der Fabrik von dem Vorarbeiter und Lüstling Maleville (in dieser Rolle furchterregend und geradezu schmierig: Andre Bauer) bedrängt und entlassen, als sie sich ihm zur Wehr setzt. Ihr Schreien und Flehen bleibt von Valjean ungehört, der in diesem Moment als Bürgermeister der Stadt den neuen Polizeipräsidenten begrüßen muss – erschreckt darüber, dass es sich bei diesem um den alten Widersacher Javert handelt, der ihn wiederzuerkennen meint, aber sich nicht vollkommen sicher ist. Fantine muss – ganz bewusst im heimischen (also in diesem Fall dem Elzer) Dialekt von Petra Sander dazu überredet – ihre Haare, an Tim Metternich als Quacksalber dann auch noch ihre Backenzähne verkaufen und sich schließlich mit"hilfe" von drei feingewandeten jungen Damen (Manuela Arbter, Lisa Zimmer und Julie Zimmer) als Hure verdingen, bevor sie – was vielen Zuschauern spätestens jetzt Tränen in die Augen treibt - in den Armen von Jean Valjean stirbt, der zutiefst erschrocken ist über die eigene Schuld am schrecklichen Schicksal der jungen Mutter.

Entschlossen kauft er Cosette bei den Thenardiers frei und flieht mit ihr vor Javert in ein Nonnenkloster, wo Cosette aufwächst und er selbst gemeinsam mit dem Gärtner, einer guten Seele (Jürgen Schmitt), arbeiten kann. Margit Pressler als gestrenge, aber gleichzeitig auch gütige Mutter Oberin muss nach der jahrelangen (für die Zuschauer aber im Verhältnis dazu kurzen) Pause anerkennen, dass Cosette sich zu einer schönen jungen Frau (jetzt Annika Zimmer) entwickelt hat und sich ihre Vorhersage nicht bewahrheitete, die die Zuschauer schmunzeln ließ, das Kind werde wegen seiner Hässlichkeit später einmal eine gute Nonne.

Cosette trifft und verliebt sich, zum (für die Zuschauer an Thorben Horns Mimik deutlich spürbaren und sie diesmal lachen lassenden) Leidwesen ihres Vaters, in Marius de Pontmercy.
Valjean flieht mit Cosette, der er in all den Jahren zum Vater geworden ist, ein weiteres Mal; diesmal nicht nur vor Javert, sondern wohl auch vor der Liebe des Marius de Pontmercy zu seiner Tochter. In seinem Leid über das Verschwinden der Geliebten schließt sich de Pontmercy den Revolutionären des Juniaufstands an. Die wurden vorher meisterhaft motiviert (oder soll man besser schreiben: aufgepeitscht oder gar aufgehetzt?) von Jonathan Neust als ihrem Anführer. Charakteristisch für diesen ist wohl sein Ausruf „Welch ein Heldenmut!“ angesichts der Drohung des jungen Pontmercy gegenüber den Soldaten, mit dem Pulverfass in seinen Händen alles (also nicht nur die Soldaten, sondern auch die eigenen Mannen) in die Luft zu sprengen (Foto unten). Der Satz eines anderen, der folgt („Welch eine Dummheit!“) lässt jedoch sofort die angemessene Distanz gegenüber Aufpeitschung und Opferbereitschaft gewinnen, welche den Rezensenten zuvor zwar durchaus beeindruckt, aber gleichzeitig auch an die schrecklichen Erfahrungen erinnert hatten, die gerade die Deutschen einst mit so etwas machten.

Feli (Feleknaz) Cavus als Eponine, eine der Töchter der Thenardiers, für deren Schönheit und Anmut Marius zu ihrem Leidwesen jedoch blind ist, und der noch sehr junge Revolutionär Gavroche (sehr lebendig und engagiert verkörpert von Mika Hastrich) geraten in den Kugelhagel der Soldaten. Bevor am Ende selbst hartgesottenen Zuschauern fast die Tränen kommen, passiert noch viel und sogar die größte Freude wird getrübt ...

Eine hervorragende Leistung der zahlreichen Schauspielerinnen und Schauspieler (Foto), die mit „grandios“ und „gigantisch“ nur unzureichend gewürdigt werden kann, unter der meisterhaften Regie von Genie Genia Gütter und Sarah Horn als Regieassistenz mit der Unterstützung von Petra Lehr, Judith Zimmer und Silke Metternich in der Maske, Frank Blättel und Andreas Weier, die für Bühnentechnik und -bau verantwortlich zeichneten, Michaela Schmidt für die Kostüme und Requisite und Alexandra Blättel als Souffleuse.

Dennis Schmidt, Max Pötz, Nils Kiesewetter, Jörg, Louis und Linus Schmidt, Seyda Kiyak, Sonja Cayir, Tim Simon, Elias Schäfer, Sam Schneider, Tom Krelowetz, Lukas Alfa, Ingo Schmalstieg und Elias Neundter - sie alle füllten ihre Rollen (ob als kleines Mädchen, Revolutionäre, Soldaten oder Trunkenbolde oder andere) so dermaßen gut aus, dass der Abend zu einem reinen Genuss wurde. Aber nicht nur die Schauspieler, alle Mitwirkenden trugen dazu bei – von denen an der Kasse über jene an der Theke bis hin zu denen, die am Eingang das Glas Weißherbst überreichten, welches den Abend schon gleich zu Beginn perfekt abrundete.

Wer diese lange Rezension jetzt tatsächlich bis ans Ende gelesen hat, den bittet der Rezensent nun, ihm zu verzeihen, wenn in manchen Formulierungen die Begeisterung mit ihm durchging, er die Handlung falsch verstand oder er (am schlimmsten!) etwas oder gar jemanden nicht oder unangemessen würdigte. Das geschah einzig aus seinem Unvermögen, nicht mit Absicht. Geschlossen werden soll mit dem Tipp, für die nächsten Vorstellungen der „Amateurbühne theater am bach“ (die sich zur Vermeidung des Missverständnisses, es handele sich nicht um Profis, nicht mehr „Amateurbühne“ nennen sollte, wie bereits ein kluger Kopf in einem Fb-Kommentar empfahl) und der „jungen bühne am bach“ rechtzeitig Karten zu reservieren und die Vorfreude auf die nächste Aufführung schon jetzt zu genießen.


Foto: Petra Kiesewetter



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